Der Bock
„Kunze!“ brüllte Kommissar Weber durch den Raum. „Schließen Sie die
Akte Kadletz. Schreiben Sie als Schlussnotiz: Nachdem der Obduktionsbefund
Fremdeinwirkung ausschließt, und am Tatort und dessen näherer Umgebung keine
weiteren Spuren feststellbar waren, blah, blah, blah, und so weiter, ist von
einem Unfall auszugehen et cetera, et cetera.“ Weber machte eine Pause,
streckte seinen fettleibigen Körper und lehnte sich bequem in seinen
Bürosessel zurück. „Dann können Sie für heute Schluss machen, Kunze.“
Kunze war Assistent im Kommissariat. Ein aufstrebender junger Mann, der
bestimmt eine große Zukunft vor sich gehabt hätte, wenn da nicht dieser Weber
gewesen wäre. Seit der die Stelle des Hauptkommissars übernommen hatte, war
Kunze nur noch Laufbursche und Tippse. Ein richtig armer Teufel. Für ihn
blieben nur die Brosamen übrig; das Filet schnappte sich stets der Chef, dieser
Fettklos. Dabei war der so was von faul und bequem. Am liebsten hätte er alle
Fälle ad acta gelegt. Na ja, dachte Kunze, vielleicht macht der Alte auch mal
einen Fehler, dann würde er dran sein, dann würde er ihn packen.
Doch im Moment blieb ihm keine andere Möglichkeit als zu kuschen. Nach
System zwei links, zwei rechts, zwei fallen lassen, hämmerte er die Aktennotiz
in die alte Schreibmaschine. Dann klappte er den Aktendeckel zu, spannte einen
Gummiring um das Paket und verstaute sie im Schrank. Der arme Förster Kadletz,
dachte er, fällt der doch einfach von seinem Hochsitz und bricht sich das
Genick. Zu gerne hätte sich Kunze den Tatort angesehen, doch Weber fand das
nicht für nötig. Nicht einmal er selbst war am Tatort. Wie sollte er auch. Der
bringt doch seinen Leib nicht aus dem Sessel. Aber die Spurensicherung? Nein,
soweit er sich an die Akte erinnerte, war auch das Spurensicherungskommando
nicht am Tatort. Eigentlich war niemand am Tatort. Nur der Notarzt und zwei
Uniformierte. Warum diktiert dann dieser hochmütige Vorstadt-Kojack den
Schwachsinn von wegen keinen Spuren und so.
Kunze sah seine Stunde gekommen. Er beschloss, diesem Fall noch ein wenig auf
den Leib zu rücken. Vielleicht gab es ja etwas zu entdecken.
Nach Feierabend preschte er mit seinem kleinen Fiat in den Wald. Gleich
hinter der großen Wiese sah er den Hochsitz. Sherlock Holmes hätte an dem
kleinen Kunze seine helle Freude gehabt, hätte er ihn sehen können. Schritt
für Schritt pirschte er dem Tatort näher. Er untersuchte jeden Tannenzweig,
jeden Grashalm, als könnten sie ihm entscheidende Hinweise liefern. Doch da war
nichts – gar nichts. Enttäuscht langte er an dem Bauwerk an. Er sah nach
oben. Mein Gott, dachte er, bei dieser Leiter ist es kein Kunststück in die
Tiefe zu stürzen. Fast wagte er es nicht, die morschen Holme zu besteigen, doch
es musste sein. Tritt um Tritt turnte er sich nach oben. Nicht ohne ein letztes
Gebet zum Himmel zu schicken, kroch er unter der oberen Querstange hindurch und
setzte sich auf das schmale Sitzbrett. Ganz schön breit, dachte er, da hätte
selbst der fette Weber noch Platz gehabt.
Weber, warum dachte er gerade jetzt wieder an seinen Vorgesetzten? War Weber
nicht auch Freizeitjäger? Kunze überlegte. Pah, reiner Zufall. Er besah sich
das weite Rund der Waldwiese. Hier war es bestimmt ein leichtes, das Wild
abzuknallen, wenn man eine gute Knarre hat. Weber besaß ein gutes Gewehr. Das
hatte er gesehen, als er zusammen mit den Kollegen beim Antrittsbesuch in Webers
altbackener Wohnung war. Mit Zielfernrohr, Nachtzieleinrichtung und allem pi, pa,
po. Typisch, hatte sich Kunze damals gedacht, kaum ein vernünftiges Möbel in
diesem Haus, aber so ne tolle Knarre. Verdammt noch mal, warum musste er immer
an den Alten denken. Weber hatte doch nichts mit dem Fall zu tun, außer dass er
der ermittelnde Polizeibeamte war. Es ging um Kadletz. Einzig und allein um
Kadletz, den Jäger im Revier der tot war, und nicht um seinen Chef.
Kunze untersuchte den Hochsitz. Jede Leiste, jeden Nagel und überhaupt, die
ganze Bauart. Auch die obere Querstange, unter der er soeben durchgeschlüpft
war. Eigentlich war sie ja zum Schutz gegen das Herabfallen der Personen dort
angebracht, doch nach dem Fall von Kadletz musste der praktische Nutzen dieser
Stange wohl angezweifelt werden. Oder diente diese Stange einem anderen Zweck?
Ja, natürlich! Diese Stange war zu dem Zweck angebracht die Büchse aufzulegen
für einen sicheren Schuss. Es gab sogar eine Kerbe, die in das Holz geschnitzt
war, damit der Gewehrlauf absolut ruhig liegen konnte. Ganz schön clever, so
ein Jäger. He, Moment mal, da war noch eine weitere Kerbe. Auf der anderen
Seite. Also links eine Kerbe und rechts eine Kerbe. Liebte Kadletz etwa den
Stellungswechsel? Kunze grinste und dachte dabei an seine Marianne.
Stellungswechsel! Hier oben auf dem Hochsitz, das wäre doch mal was.
Kunze blieb noch eine Weile auf dem Ansitz und dachte nach. Doch so sehr auch
grübelte, es kam nichts gescheites dabei heraus. Enttäuscht kraxelte er die
morsche Leiter wieder nach unten. Der alte Fiat brachte ihn qualmend und
knatternd nach Hause. „Irgend wann muss ich den kaputten Auspuff mal richten
lassen. Die Karre zieht mich kaum vom Fleck. Als ob der fette Weber neben mir
säße,“ sagte er leise vor sich hin. „Neben mir! Neben mir! Na klar, das
ist es!“ Kunze brüllte es gegen die Windschutzscheibe. Ja, so musste es
gewesen sein. Auf dem Hochsitz waren an beiden Seiten der Querstange Kerben
eingeschnitzt. Eine für Kadletz und eine zweite für einen Gast, für einen
befreundeten Jäger. Wer konnte dieser andere Jäger sein? War dieser vielleicht
dabei, als das Unglück geschah? War es am Ende doch kein Unfall, sondern Mord?
Hatte der Andere Kadletz vom Hochsitz gestoßen? Aber wer und warum? Erst musste
der Jäger gefunden werden. Das warum würde sich dann von alleine ergeben. „Wart
nur, ich krieg dich, mein Freund,“ führte Kunze sein Selbstgespräch fort.
„Aber ohne den fetten Weber. Die Lorbeeren heft ich mir selber an.“
Gut gelaunt kam Kunze am nächsten Morgen in sein Büro. Voller Tatendrang
stürzte er sich in seine Arbeit. Doch nur scheinbar, denn tatsächlich
beschäftigte ihn nur eine einzige Frage: Wie konnte er an eine Liste der
hiesigen Jäger kommen, ohne dass Weber etwas davon erfuhr.
„Morgen!“ brüllte es durch den Flur.
Aha, der Dicke kommt. Kunze schlug schnell die vor ihm liegende Akte auf. Da
ging es um ein Mädchen, das tot vor einer Disco aufgefunden wurde. Kunze hatte
seinem Vorgesetzten jeden Morgen den Stand der Ermittlungen zu berichten. Das
wurmte ihn, aber es half nichts. Kunze schnappte sich die fette Akte und tigerte
zu seinem ebensolchen Chef, der inzwischen in sein Büro gegangen war. Noch ein,
zwei Schritte, und nur noch eine dünne Trennwand lag zwischen ihm und Weber.
„... ja sicher kriegst du den Bock, jetzt wo ich den Alten weg ....“
hörte Kunze seinen Chef gerade noch sagen, bevor er ihm von Angesicht zu
Angesicht gegenüber stand. „... also bis morgen dann, ich meld mich.“ Weber
brach das Telefongespräch abrupt ab.
„Was wollen Sie denn?“ herrschte er ihn an.
„Ich wollte nur, na ja, ich meinte, ...“ Kunze stotterte, „... wegen
der Toten. Sie wissen doch, vor der Disco...“
„Na und, geben Sie die Akte schon her und verschwinden Sie, Sie Null Sie!“
Puh! Kunze schwitzte! Nichts wie weg von dem Fetten. Noch immer schlotterten
seine Knie als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Der Bock? Ich den Alten
weg? Diese Worte hatten gesessen. Kunze fiel es wie Schuppen von den Augen. Das
war es! Weber war der Gast bei Kadletz. Weber hatte den armen, alten Förster zu
Tode gestürzt, nur wegen eines Rehbocks, den er selbst schießen wollte, oder
den er einem anderen Jäger versprochen hatte. Huh! das war stark. Was sollte er
tun? „ ... bis Morgen dann ...“ hatte Weber gesagt. Was war morgen? Morgen
war Samstag. Na klar! Da wird der Bock geschossen. „Na wart, mein Dicker“
sagte Kunze zu sich selbst. „Dir werd ich helfen. Du selbst bist der Bock.
Mein ganz besonderer Bock.“
Der Wecker rasselte. Zum Teufel mit der Jagd, dachte Kunze als er am
nächsten Tag um halb vier Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen wurde. Aber es
musste sein. Wollte er Weber schnappen, musste er vor ihm am Hochsitz sein, und
Jäger pflegen nun mal zu sehr früher Morgenstunde im Revier zu sein.
Qualmend knatterte der Fiat zum Wald. Der verdammte Auspuff weckte sicherlich
die halbe Nachbarschaft auf. Wieder schlich Kunze zum Hochsitz. Jetzt nicht mehr
wie Sherlock Holmes, sondern wie Winnetou. Jedes Geräusch vermeidend glitt er
leise durch das Unterholz. Noch umfing ihn die Dunkelheit wie ein unheimlicher
Schatten, aber bald würden die letzten Nebelfetzen mit dem Sonnenaufgang um die
Wette kämpfen. Und wie jeden Tag würde die Sonne siegreich aus diesem Kampf
hervor gehen. Wer würde im Kampf der Kriminalisten siegen? Dort, der fette
Vorgesetzte Weber mit seinen Glubschaugen und der ewigen Knoblauchfahne, oder
hier, der junge, strebsame Untergebene Kunze, der am Emporkommen mit Fußtritten
gehindert wurde?
Kunze erreichte die Wiese. Er richtete sich auf und schaute in die beginnende
Morgendämmerung.
Ein Schuss krachte! Kunze kippte ganz langsam nach hinten. Ein kleines Loch
gähnte mitten auf seiner Stirn. Es trat nicht einmal ein Tropfen Blut aus der
Wunde. Ein glatter Blattschuss.
Weber schnaufte heran. „Tja mein Junge, wer mich kriegen will muss schon
früher aufstehen und sollte nicht gerade vor Sonnenaufgang mit einem uralten
Fiat durch den Wald donnern. Verschreckt mir ja das ganze Wild, ha, ha, ha!“
Sein Grinsen höhnte durch die Morgendämmerung. Die fetten Arme schleiften den
toten Körper durch den Wald. Weber schwitzte. Die Anstrengung wollte ihn fast
zugrunde richten. Plötzlich blieb er stehen; fasste sich an die Brust; ein
Schrei, nein nur ein Röcheln drang aus seinem Hals, dann brach er zusammen.
Herzschlag!
Der Bock hat gerichtet. Drei Tote im Revier, nur wegen des Bocks!
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