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Nina

Nina hieß sie und hatte rote Schuhe an.

Rot wie ihre Zunge.

Rot wie ein Feuermelder.

Wie kann ein vernünftiger Mensch nur rote Schuhe anhaben? Und noch dazu Nina.

Wo doch auch ihre Zunge rot war.

Rot wie tot.

Und so tot schwebten die Schuhe, in welchen zwei Beine hingen in sein Zimmer. Nicht einmal die lose Diele knarrte wie üblich. Nina war zu leicht. So leicht wie der Flaum eines Kükens. Mein Gott, wie kann ein Mensch nur so leicht sein?

Und ebenso rot und leicht schwebte sie an sein Bett und begann zu erzählen.

Zufrieden hörte er ihr zu. Die Augen geschlossen, die Glieder matt und müde. Ninas Stimme war sanft und mild. Sie schilderte ihm die Schönheiten des Lebens, sie malte die herrlichen Stunden, welche beide miteinander verbracht hatten, in schillernden Farben aus. Die sonnige heiße Tage am Strand, die einsamen verträumten Spaziergänge in den duftenden Wäldern, die lustigen Spiele mit Freunden, die sinnlich wollüstigen Nächte, all das erschien vor seinen Augen, während Nina erzählte. Sie ließ aus zarten Knospen Blumen sprießen, sie ließ den bunten Artenreichtum der Korallenriffe vor seinen Augen vorbeiziehen, sie ließ Düfte aus tausendundeiner Nacht in seine Nase steigen, sie ließ süße Musik in seinen Ohren erklingen.

All seine Träume, all seine Wünsche erfüllten sich, während sie mit ihm sprach.

Und doch war alles so rot.

Rot wie tot.

Nina strich mit zärtlichen Fingern durch sein wirres Haar. Sie tupfte mit den weiten Ärmeln ihres Gewandes den kalten Schweiß von seiner Stirn.

Leise, tonlos begann er zu sprechen.

"Nina, hol mich zurück. Ich will nicht hier bleiben. Hörst Du Nina? Hol mich zurück zu Dir."

Und die roten Schuhe wurden tiefer rot, und die Zunge wurde dunkelrot.

Stumme Tränen traten aus Ninas Augen und sickerten ihr in die Mundwinkel.

Sie war traurig.

Rot und traurig.

Sie konnte ihn nicht zurückholen, das wusste sie.

Zerbrechlich und gebrochen stand Nina auf und drehte sich um. Nur damit er ihre Tränen nicht sah.

Dass er die rote Zunge nicht sah.

Schwebend glitt sie über die lose Diele.

Und die roten Schuhe hingen an den Beinen.

Nur die Tür knarrte traurig, weil die liebende Nina ihn nicht zurückholen konnte.

Weil er so rot war.

So rot wie tot.

 

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