Eisblumen
Anja sitzt am Fenster, wie sie immer am Fenster sitzt und presst
die zerknüllten Wangen an die Fensterscheibe. Mein Gott, diese zerknüllten
Wangen. Wie ein Brief, der weggeworfen wird; wo man Briefe doch nicht wegwirft,
weil Briefe das einzige sind, das bleibt.
Mit ihren großen Augen, die so leer sind wie die Tornister
der Soldaten schaut sie in die Ferne. Und kalt sind sie, diese Augen, kalt wie
die Eisblumen am Fenster. Manchmal haucht Anja die Kristalle an, so dass ein
kleines Rinnsal Schmelzwasser über die Scheibe huscht. Es schmeckt so
wundervoll salzig, denkt Anja, so wundervoll salzig wie der Schweiß der Mutter,
wenn sie sich über mich beugt und mir den heißen Tee bringt. Und dann leckt
sie mit der Zunge die Tröpfchen von der Scheibe.
Manchmal aber reibt sie auch mit der Hand ein kleines Loch in
die Eisblumen und schaut in die Ferne. Wie die Kinder draußen spielen; wie sie
mit den spitzigen Kufen über das Eis laufen; wie sie sich im Schnee wälzen;
wie sie mit den Schlitten die Straße entlang huschen; wie sie dem Schneemann
einen Stein in den Kopf stecken, weil sie keine Rübe für die Nase haben, weil
man doch die Rüben essen muss; wie sie noch zwei Steine für die Augen suchen,
weil sie keine Kohlen haben, weil doch die Kohlen zum heizen benötigt werden;
wie der Schneemann deshalb so traurig blickt, weil nur in den Eierkohlen jenes
Leuchten entsteht, das aus einem ganz normalen Schneemann einen glücklichen
Schneemann macht; wie sie den Schnee von den bunten Pudelmützen klatschen; wie
sie mit den glatten Sohlen über den Gehweg schleifen; all das sieht sie, wenn
sie aus dem Fenster schaut. Und manchmal, wenn sie ihren Kopf schräg zur Seite
neigt, und sich ihr Gesicht in den Eisblumen spiegelt, dann sieht sie, dass sie
dabei ist. Und dann ist alles nicht mehr ganz so schlimm, weil sie ja dabei ist.
"Hast Du Deine Medizin genommen Anja?" ruft die
Mutter aus der Küche.
"Ja Mutter ....."
"Du weißt, die Medizin ist sehr teuer ....."
"Ja Mutter ....."
"Und der Doktor hat gesagt, Du musst sie schön
regelmäßig nehmen, damit sie hilft ....."
"Ja Mutter ....."
"Drei mal am Tag, auch wenn sie nicht gut schmeckt
....."
"Ja Mutter ....."
"Und hast Du den warmen Schaal umgebunden? Es ist doch
schon wieder so kalt ....."
"Ja Mutter ....." Warum hört sie denn nicht, wenn
ich was sage, warum? Bestimmt steht sie wieder in der Küche und kocht den
heißen Tee, den sie dann bringt und auf die Fensterbank stellt, und dann
schmeckt man wieder den wunderbaren salzigen Schweiß, den man immer schmeckt,
wenn sie den Tee bringt.
Und dann klopft es an der Tür, und der Postbote kommt, und er
bringt eine Nachricht. Der Postbote bringt immer eine Nachricht, und meistens
weinen die Frauen, weil die Nachricht keine gute Nachricht ist.
Durch den Spalt der Tür dringt der kalte Winterwind, und das
kleine Loch zwischen den Eisblumen friert wieder zu, und Anja reibt mit ihrem
Ärmel die Scheibe wieder frei; sie muss doch die Kinder draußen sehen, sie
muss doch dabei sein, wenn die anderen draußen sind.
"Hast Du Deine Medizin genommen .....?" die Mutter
weint und hat den Brief in der Hand, den von dem Postboten, den mit der
Nachricht, der ist von dem Institut, welches die Proben von Anja untersucht hat,
"..... die ist doch so teuer, die Medizin ....."
Und die Mutter nimmt Anja in den Arm, und die Achseln duften
wieder so wundervoll salzig nach Schweiß .....!
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