Willkommen auf der Homepage von Alfred Hägele            
    
   


  

Eisblumen

Anja sitzt am Fenster, wie sie immer am Fenster sitzt und presst die zerknüllten Wangen an die Fensterscheibe. Mein Gott, diese zerknüllten Wangen. Wie ein Brief, der weggeworfen wird; wo man Briefe doch nicht wegwirft, weil Briefe das einzige sind, das bleibt.

Mit ihren großen Augen, die so leer sind wie die Tornister der Soldaten schaut sie in die Ferne. Und kalt sind sie, diese Augen, kalt wie die Eisblumen am Fenster. Manchmal haucht Anja die Kristalle an, so dass ein kleines Rinnsal Schmelzwasser über die Scheibe huscht. Es schmeckt so wundervoll salzig, denkt Anja, so wundervoll salzig wie der Schweiß der Mutter, wenn sie sich über mich beugt und mir den heißen Tee bringt. Und dann leckt sie mit der Zunge die Tröpfchen von der Scheibe.

Manchmal aber reibt sie auch mit der Hand ein kleines Loch in die Eisblumen und schaut in die Ferne. Wie die Kinder draußen spielen; wie sie mit den spitzigen Kufen über das Eis laufen; wie sie sich im Schnee wälzen; wie sie mit den Schlitten die Straße entlang huschen; wie sie dem Schneemann einen Stein in den Kopf stecken, weil sie keine Rübe für die Nase haben, weil man doch die Rüben essen muss; wie sie noch zwei Steine für die Augen suchen, weil sie keine Kohlen haben, weil doch die Kohlen zum heizen benötigt werden; wie der Schneemann deshalb so traurig blickt, weil nur in den Eierkohlen jenes Leuchten entsteht, das aus einem ganz normalen Schneemann einen glücklichen Schneemann macht; wie sie den Schnee von den bunten Pudelmützen klatschen; wie sie mit den glatten Sohlen über den Gehweg schleifen; all das sieht sie, wenn sie aus dem Fenster schaut. Und manchmal, wenn sie ihren Kopf schräg zur Seite neigt, und sich ihr Gesicht in den Eisblumen spiegelt, dann sieht sie, dass sie dabei ist. Und dann ist alles nicht mehr ganz so schlimm, weil sie ja dabei ist.

"Hast Du Deine Medizin genommen Anja?" ruft die Mutter aus der Küche.

"Ja Mutter ....."

"Du weißt, die Medizin ist sehr teuer ....."

"Ja Mutter ....."

"Und der Doktor hat gesagt, Du musst sie schön regelmäßig nehmen, damit sie hilft ....."

"Ja Mutter ....."

"Drei mal am Tag, auch wenn sie nicht gut schmeckt ....."

"Ja Mutter ....."

"Und hast Du den warmen Schaal umgebunden? Es ist doch schon wieder so kalt ....."

"Ja Mutter ....." Warum hört sie denn nicht, wenn ich was sage, warum? Bestimmt steht sie wieder in der Küche und kocht den heißen Tee, den sie dann bringt und auf die Fensterbank stellt, und dann schmeckt man wieder den wunderbaren salzigen Schweiß, den man immer schmeckt, wenn sie den Tee bringt.

Und dann klopft es an der Tür, und der Postbote kommt, und er bringt eine Nachricht. Der Postbote bringt immer eine Nachricht, und meistens weinen die Frauen, weil die Nachricht keine gute Nachricht ist.

Durch den Spalt der Tür dringt der kalte Winterwind, und das kleine Loch zwischen den Eisblumen friert wieder zu, und Anja reibt mit ihrem Ärmel die Scheibe wieder frei; sie muss doch die Kinder draußen sehen, sie muss doch dabei sein, wenn die anderen draußen sind.

"Hast Du Deine Medizin genommen .....?" die Mutter weint und hat den Brief in der Hand, den von dem Postboten, den mit der Nachricht, der ist von dem Institut, welches die Proben von Anja untersucht hat, "..... die ist doch so teuer, die Medizin ....."

Und die Mutter nimmt Anja in den Arm, und die Achseln duften wieder so wundervoll salzig nach Schweiß .....!

 

  www.alfred-haegele.deback top